analog/digital, digital/analog – Eine funktionale Leitdifferenz in Wirklichkeitsemulation?

Das Thema "Digitalisierung" ist in aller Munde. Ich habe in meinen Artikeln über Wirklichkeitsemulation dargelegt, warum ich denke, dass der Begriff das Phänomen nicht hinreichend greift, sondern im Gegenteil verhindert, dass die Diskussion auf breiter Ebene den technologischen, den kognitiven und den sozialen Veränderungen mit denen wir es seit einer Weile zu tun haben, gerecht wird.

Nun wird schon geraume Zeit erneut die operative Differenz analog/digital besprochen, und ich denke, dass diese Diskussion Blockadeaspekte hat oder Belagerungszustände hervorbringt – das gilt vor allem, wenn die Begriffe nicht hinreichend gefasst werden.

Viele scheinen zu glauben, dass analog bedeutet 'mehr menschlich' und digital 'mehr maschinell'. Der Gedanke kommt vermutlich mit aus der EDV, wo analog auch als kontinuierlich und stufenlos verstanden wird und digital als etwas, das mit Berechnen zu tun hat, mit Beziffern, Abzählen, Bilder in Zahlen zum Ausdruck zu bringen, ... Dabei übersieht sich aber leicht, dass es sich bei beiden, analogem und digitalem Denken, auf basaler Ebene um Entscheidungsformen handelt. Und so handelt es sich bei beiden um Formen der Berechnung (siehe uFORM iFORM, Ralf Peyn, Heidelberg 2017). Das gilt auch dann noch, wenn ich der Idee analogen Denkens und des Denkens in Analogien den Gedanken parallelen Prozessierens hinzufüge und den des Denkens in Entsprechungen.

Schauen wir uns die Begriffe analog und Analogie im Kontext ihrer philosophischen Tradition an:

  • ἀνάλογος (altgr.) : entsprechend
  • αναλογίζομαι (altgr.) : berechnen, überlegen, (nochmals) erwägen, (an jemanden) denken

und für digital:

  • digitus (lat.): der Finger
  • digitalis (lat.) : zum Finger gehörig

Der Finger wurde zum Abzählen benutzt, und so bedeutete digitus auch Ziffer.
Auf dem Weg des Begriffs digitus von England digit (Ziffer, Finger, Zahl, Stelle, Zeh) nach Deutschland ging uns der Finger leider verloren und mit ihm die Haptik, die den Begriff ursprünglich so schön anfassbar gemacht hat.

Hier verwischen die Konzepte. Digital begegnet uns analog und analog digital.

Interessant finde ich das heute mit Aktualitätsanspruch erneute Auftauchen dieser in den Achtzigern des vergangenen Jahrhunderts bereits so umfassend geführten Diskussion, was in mir die Frage entstehen lässt, woraus dieser Wunsch danach, Phänomene von heute mit Begriffen/Konzepten aus dem letzten Jahrhundert zu fassen, eigentlich resultiert. Es ist doch bemerkenswert, dass mit der weit verbreiteten Unfähigkeit oder auch Unwilligkeit, die Veränderungen und Herausforderungen in Wirklichkeitsemulation zu greifen, ein reaktionäres Denken kommt, das versucht, sich mit Modellen aus den Achtzigern über die heutige Zeit zu retten, ja das vielenteils so wirkt, als wolle es ein Goldenes Zeitalter reaktivieren, das tatsächlich in seiner Modellkomplexität seinem heutigen Reaktivierungsversuch überlegen war. Donald Trump recycelt Ronald Reagans "Make America great again", aber statt zu fordern: "Mr. Gorbatschow, tear down this wall!" lässt Trump seine Minions kreischen "Build the wall! Build the wall! ..."

Meine Vermutung ist, dass bereits der Begriff Digitalisierung dazu motiviert, sich auf überkommenen Konzepten auszuruhen und dass so mancher, der in diese Diskussion involviert ist, die Techniken nicht gelernt hat, die uns Digitalisierung schenkt. So lässt sich natürlich schwerlich greifen, was Mensch und Maschine denn nun unterscheidet oder verbindet - wenn man selbst nicht programmieren kann und deshalb nie die Erfahrung gemacht hat, wie es sich anfühlt, in kurzen Feedbackschleifen zu denken. Leicht entziehen sich einem noch mehr das Zustandekommen und die Inhalte und die Bedeutung heutiger Technologien, und es wird einem fast unmöglich, sich eine halbwegs funktionale Vorstellung der Strömungen, Potenziale und Herausforderungen in Wirklichkeitsemulation zu machen.

So passiert es, dass einige glauben, analoges Denken sei vor allem eine menschliche Qualität, die wir nur weiter ausbauen müssen, während wir den Computern mehr oder weniger das digitale Operieren überlassen können.

Das Problem dabei ist, dass Menschen, die Analogien den Vorzug geben, immer nur auf das zurückgreifen, was sie bereits kennen. Sie stellen Entsprechungen zu schon vorhandenen Konzepten her. Um aber innovativ denken zu können, braucht es mehr. Wer unklare FORMen und das Unbestimmte bestimmten FORMen vorzieht, der hat gleich mehrere Probleme, von denen eines das bereits benannte ist, ein weiteres, dass sich nur über höhere Bestimmtheit neue Unbestimmte bilden und dass unklare FORMen, die in bestimmte oder imaginäre oder unbestimmte FORMen überführt werden können, auch in solche überführt werden sollten, um auf neue Gedanken und Ideen zu kommen. Wenn ich alles, was ich neu beschreibe, an das anschließen muss, was ich kenne, dann kann ich nur erkennen, was ich sowieso schon kenne. Das heißt, ich kann keine neuen Probleme am Horizont aufziehen sehen, weil ich meinen Kopf in den Sand der alten Sicherheiten gesteckt habe. Phänomene, die nicht in meinen Realitätstunnel passen, sehe ich nicht, ich kann sie nicht beschreiben, und wenn mir dann jemand, der die Mittel hat, mir diese Phänomene näher zu bringen, dazu Vorschläge macht, nenne ich ihn einen "Lügner" oder erkläre blankweg seine Leistung für unbrauchbar.

Viele Menschen sind bemüht, den Mythos des Zustandekommens ihrer eigenen Existenz nicht zu desillusionieren, und invisibilisieren gerade deshalb ihre Entscheidungsprozesse. Aber wir können das System, das kontinuierlich unsere Entscheidungen fällt, nicht abschalten. Wenn wir das versuchen, löst es sich auf. Mit unklaren FORMen können wir arbeiten, weil die Systeme, auf denen sie als emergente FORMen entstehen, diese FORMen verkraften. Wie das geht, ist in uFORM iFORM dargestellt. Autopoietische Systeme integrieren Störungen in ihre Selbstorganisation. Sie konstituieren sich an Unbestimmtheit (von Umwelt), lernen Unbestimmtheit zu bewältigen und konstruieren sich – unter anderem unter Zuhilfenahme von unklaren FORMen – interne Umwelten und Systeme. Wer die unklare FORM benutzt, um mit ihr und durch sie den Mythos zu erhalten, schafft im Zweifelsfall eine Situation, in der das Überhandnehmen der unklaren FORM in Stagnation führt.
Wer die SelFis, decisionFORMs, lifeFORMs und mindFORMs untersucht, die mit uFORM iFORM gewonnen werden (Artikelserie: How does System function/operate), kann beobachten, wie Systeme auch unklare FORMen transportieren oder transformieren.

Analogien versagen bei etlichen Konzepten. Zu versuchen, mit Analogien, die wir aus unserer Alltagswirklichkeit (in den uns gewohnten Größen- und Zeitordnungen) kennen, zum Beispiel Atome, Elektronen, subatomare Teilchen zu beschreiben, zu begreifen und vorherzusehen, führt uns zu nicht passenden Schlüssen.

Mit anderen Worten: Analoges digitalem Denken vorzuziehen, ist genauso einseitig wie umgekehrt.

Berechnen – sowohl digital, abzählend, wie auch analog, in Mengen denkend – wird in menschlichem Bewusstsein geformt. Berechnen ist dem Menschen nicht fremd. Berechnungen entstehen in autopoietischen Systemen. Autopoietische Systeme relationieren sich zu sich selbst. Das heißt faktisch, dass sie sich errechnen – ob einem das nun passt oder nicht. Der wichtige Punkt ist eben: Sie errechnen sich. Sie wissen dabei noch nicht einmal genau, wie sie sich morgen errechnen werden. Und wir, wenn wir sie von außerhalb betrachten, können bestenfalls approximieren, wohin sie sich entwickeln, aber wir können es nicht vorausberechnen. Und auch das wiederum ändert nichts an dem Faktum (von facere 'machen, tun'), dass autopoietische Systeme sich organisieren, sich umorganisieren, sich relationieren und dabei Computation verwenden. Der Computer, den wir erfunden haben, ist ein Destillat aus unseren Fähigkeiten, eine Spezialisierung unserer Fähigkeiten, und insofern ein Produkt unserer Kultur und nichts dem Menschen Fremdes.

Analoges Denken als menschlicher zu begreifen übersieht auch, dass Künstliche Intelligenzen längst Analogien produzieren und prozessieren. Watson von IBM zum Beispiel arbeitet grundsätzlich mit Analogien. Natural Language Processing produziert mit statistischen Mitteln Entsprechungen. Beides gute Beispiele dafür, wie nur Bekanntes angeschlossen wird und dass sich Emergenz hier schwer tut. Wir dürfen auch anfangen uns zu fragen, wer fähiger im Multitasking ist: der Mensch oder die Maschine?

Der Computer und Digitalisierung ist eine Spezialisierung menschlicher Fähigkeiten, die wir automatisiert haben, und jetzt kann sie unabhängig von uns laufen. Was ist der natürlich nächste Schritt für den Menschen? Es ist der, von diesem Anschauungsmodell, das er sich geschaffen hat, zu lernen und zu gucken, was er daran/davon emulieren und für sich nutzen kann. Wir haben hier ein Modell, in dem der Mensch sich spezialisiert, sich dann davon distanziert und jetzt diese Distanz nutzen kann, um sich daran selbst zu verbessern und weiter auszudifferenzieren.

Wie sollen zukunftsweisende Konzepte für die funktionale Symbiose von Mensch und Maschine gelingen, wenn wir uns auf Überlegungen ausruhen, die wir längst schon durchdacht haben? Wie kann sich cutting-edge development auf dem Boden einseitiger und überalterter Formen entwickeln? Wie können, ja müssen wir uns mit allem entwickeln, was wir jetzt schon können und wissen, um sicherzustellen, dass wir nicht aus Bequemlichkeit in die Situation geraten, dass Innovation in einigen Bereichen nicht mehr möglich ist, weil wir zu blöd geworden sind?

Ich kann nur vermuten, dass der etwas gespreizte und unzureichende Versuch, sich die Vorzüge menschlichen Denkens und Handelns vermittels der Differenz analog/digital zu veranschaulichen, im Grunde einfach auf Überlegungen zu Kreativität, Gefühlen, menschlicher Fantasie, unserer Fähigkeit zu lieben, zu hassen, zu träumen und so weiter zurückgeführt werden kann, aber auch diese Fähigkeiten sind nicht allein analogem Denken zuzuschreiben, und auch sie stagnieren, stumpfen ab, verlieren an Brillanz, könnten wir sie nicht mit digitalem Denken weiter ausbauen. Das Denken in Entsprechungen ist ein Denken in abstrahierteren Konzepten, während digitales Denken auch tastendes, bauendes, anfassendes Denken bedeutet. Mit der Analogie lässt sich kein Nagel in die Wand denken. Mit dem Finger kann ich zeigen, Gesten machen, mit Händen und Werkzeug bekomme ich mein Bild aufgehängt.

Insofern wirkt auf mich der Ratschlag, sich mehr auf analoges Denken zu konzentrieren, wie ein Ratschlag, sich von der Welt zu entfremden. Die Kinder, die heute aufwachsen, müssten dann entweder rebellieren und in Eigeninitiative herausfinden, wie ihre Welt in Wirklichkeitsemulation funktioniert, oder sie befolgen den Ratschlag, so dass sie im Anschluss von der Technologie, auf die sie angewiesen sind, genauso wenig oder gar noch weniger Ahnung haben als ihre Berater.

Grund für solche Empfehlungen mag die eigene Stagnation oder mangelndes Veränderungsinteresse sein. Sie werden aus der eingebildeten Wohlstandsposition heraus ausgesprochen, wo nichts dazu gelernt werden muss, um das Überleben und Fortkommen zu gewährleisten. Sie können langfristig sowohl für den Einzelnen, als auch für Wirtschaft und Wissenschaft vor dem Hintergrund von Globalisierung und technologischem und technischem Fortschritt fatale Konsequenzen nach sich ziehen.

Wer selbst nicht programmiert und die neuen Technologien nicht begreift, verliert den Anschluss in/an Wirklichkeitsemulation und die Fähigkeit, nützliche Leistungen in/für der/die Welt von morgen zu erbringen. Man kann in seinem Sosein so bleiben, empfiehlt in seiner Beschaulichkeit weiter, dass das das Beste ist, lebt in seinem wohlgemachten Nest und erteilt anderen Ratschläge, die nicht nur nicht wirklich funktionieren, sondern die auch noch dazu geeignet sind, Schaden anzurichten.

Wie können wir der Welt empfehlen, nicht über sich selbst hinauszuwachsen, sich nicht an sich selbst anzupassen?

Wir können Systeme nicht in Stagnation halten! Sie existieren, weil sie sich kontinuierlich verändern. Beobachter, die denken, dass das Konservative funktioniert, können nur deshalb als Konservative funktionieren, weil das darunter liegende System ihr Überleben gewährleistet – egal, wie dumm sie sind. Systeme bringen ihren Selbsterhalt nicht durch Starrheit zustande, sondern durch kontinuierliche Selbststörung und Selbstanpassung. Auch Homöostase formt sich nur auf der Unruhe des Systems.

Viele Prozesse in Systemen können nicht hinreichend mit Analogien beschrieben werden. Deshalb brauchen wir Systeme, um Systeme zu interpretieren und zu analysieren. Dem können wir dann ein analogisches Konzept zuweisen, allerdings ist das nicht das, was in der Regel mit dem Begriff gemacht wird.

"Das ist ja wie ...", "Das ist ja nur ...", "Das wissen wir ja ...", "Das weiß man ja ..." - vier Beispiele für Redewendungen, die einige häufig benutzen. Es handelt sich dabei um vollkommen unzureichende Generalisierungen, um trivialisierende Analogien, die so nicht funktionieren. (Wer mehr über solche Phänomene erfahren möchte, liest meine Artikelserie "Im Gleichschritt Marsch", die deutlich macht, dass und wie diese Art des Denkens reduktionistische Ideologien und copyhaftes Verhalten motiviert.)

Schon die Verwendung des Wörtchens "man" sollte das grundlegende Problem mit diesem Denken bewusst machen können, denn wir sollten die Frage stellen, mit welchem Ziel eine solche Selbstdistanzierung und Ablehnung der Verantwortlichkeit durchgeführt wird: Was will derjenige damit erreichen, wenn er eine unspezifische Gruppe hinter sich bringt, die ihm Recht zuspricht und mit der Wucht der Masse Konformitätsdruck ausübt? In welcher ontologischen Sicherheit soll uns in vielen (aber natürlich nicht allen) Fällen das bekräftigende "Ja" wiegen? Welche Frage dürfen wir nicht stellen?

Das unterkomplexe Hantieren mit unklaren FORMen, mit vermeintlichen Kontingenzen, die eigentlich nur willkürlich sind und nicht in dem Sinne kontingent, wie der Begriff es bezeichnet, diese Formen von unbrauchbarem Pragmatismus, wo die Resultate weder nützlich, noch operativ, noch effektiv sind, diese Blüten viel zu bequemen Denkens haben die AfD und Donald Trump hervorgebracht. Bücher wie "The Art of the Deal" und das ganze derart motivierte Verhalten sind eine Pestilenz, die auf Grundlage solcher Willkür gewachsen ist – Cash Value als Ersatz für Wahrheit oder schlimmer noch: als Ersatz für Wahrhaftigkeit? ...

Wirklichkeitsemulation:

Im Gleichschritt Marsch:

How does System function/operate:

Und zur Ergänzung: Lüchower Interpretation der Systemmechanik:

Meine Einführung in Denken in komplexen re-entry-FORMen (uFORM iFORM):