Kontingenz hat Härte - sie ist nicht beliebig

Der Kontingenz-Begriff ist mittlerweile weit bekannt.

Was allerdings oft fehlt, ist klare Referenz.

Erkenntnis zeigt sich in der Verbindlichkeit fürs Handeln.


Steigen wir daher noch einmal ein, damit "Kontingenz" von eindimensionaler Beliebigkeit getrennt werden kann.

Der mathematische/kybernetische Begriff von Kontingenz ist schnell gezeigt:

Das Ergebnis der mathematischen Formel kann verschieden sein.

Wenn ich schreibe A = A, dann kommt, setze ich für A “Wahr” ein, dabei heraus:
Wahr = Wahr.

Setze ich für A “Falsch” ein, kommt dabei heraus:
Falsch = Falsch.
Auch das ist Wahr.

Schreibe ich A = nicht A, dann kommt, setze ich für A “Wahr” ein, dabei heraus:
Wahr = Falsch, was Falsch ist.

Setze ich für A “Falsch” ein, kommt dabei heraus:
Falsch = Wahr, was ebenfalls Falsch ist.

Das Erste wird “Tautologie” genannt, das Zweite “Widerspruch”.

Wenn ich schreibe "Entweder A oder B", ist diese Aussage in zwei Fällen wahr und in zwei Fällen falsch:
Entweder A ist wahr
oder B ist wahr.

Woraus sich ergibt: Es gibt vier Möglichkeiten: zwei wahre und zwei falsche.

Die Formel ist kontingent.

Schreibe ich ein einschließliches Oder: "A oder B", ist diese Aussage in drei Fällen wahr und in einem Fall falsch:
Nur in dem Fall, dass A und B Falsch sind, ist die Aussage falsch – in allen anderen drei Fällen ist sie wahr.

Der Kontingenzraum wird durch die Kombination der möglichen wahren und falschen Aussagen bestimmt.

Beim systemtheoretischen Begriff von "Kontingenz" sieht es ähnlich aus.
Schauen wir dafür zunächst in den Begriff:

"Kontingenz" bedeutet: weder notwendig, noch unmöglich.
Einfacher gesagt: auch anders möglich.

Das hat nichts mit Beliebigkeit zu tun, sondern mit der Frage, welchen Möglichkeitsraum die Leitdifferenz öffnet - und schließt.

"Leitdifferenz" meint die Differenz, welche hier unsere Beobachtungen organisiert.

Wenn ich hungrig bin, bestimmen Notwendigkeit und Unmöglichkeit meinen Handlungsraum. Sie sind nicht beliebig. Ich kann hier nicht einfach für "durstig" einsetzen und glauben, diese Freiheit hätte ich.

Die Leitdifferenz bestimmt den Kontingenzraum.
Hier ergeben alle Möglichkeiten, welche die Leitdifferenz bedienen, diesen Raum.
"Ach, dann faste ich jetzt einfach mal!" gehört nicht dazu!

Es geht schon darum, bestimmen zu können, was alles genau dieses durch die Leitdifferenz bestimmte Problem löst - und was nicht.

Wenn ich ein spezifisches Problem mit unterschiedlichen Lösungsmöglichkeiten habe, und diese lösen alle das Problem, dann sind diese Lösungsmöglichkeiten kontingent: kontingent für die Lösung des Problems.

Nehme ich jetzt aber Verhaltensweisen dazu, welche das Problem gar nicht lösen, und bezeichne diese ebenfalls als “kontingent” in Bezug auf das Problem, dann produziere ich einen Widerspruch – und nicht nur einen logischen Widerspruch, sondern auch einen Widerspruch in meinen Handlungsmöglichkeiten, denn die Lösungsmöglichkeiten, die ich als “kontingent” beschrieben habe, lösen das Problem eben nicht.

Brandbeschleuniger ins Feuer zu gießen, ist kein kontingenter Lösungsansatz, um das Feuer zu löschen.

Ebenso ist, Wirtschaftsunternehmen einfach zu eigenständigen Lebensformen zu erklären, kein Lösungsansatz, um ihr Überleben zu sichern, sondern eine sichere Methode, um sie zu destruieren.

Bei komplexen Problemen zählen zum Kontingenzraum auch Unbestimmte, das ist klar. Aber auch daraus folgt nicht, dass ich einfach so an der Leitdifferenz herumschrauben kann.

Wer das tut, der schränkt die Herausforderung, den Kontingenzraum zu bestimmen, ein. Er weicht auf Relativismus aus, sprengt einfach mal den Raum ins Unklare und tut so, als hätte er diese Freiheit.

Das ist einer der Gründe, warum immer noch so Viele glauben, Systemtheorie sei für Organisationen und Gesellschaft nutzlos.

Mit dem Pol "Beliebig/Linear" argumentiert es sich natürlich gut rhetorisch unter Leuten, die sich nicht auskennen, aber wer tatsächlich etwas erreichen will, der will von uns konkretere Antworten als "Na, es ist eben komplex!"

Natürlich gibt es im Rahmen der Leitdifferenz bei komplexen Problemen auch Unbestimmte: Dinge, von denen wir nicht wissen, ob sie der Fall sind oder nicht und von denen wir nicht einmal wissen, ob wir je wissen, was sie sind.

Doch dies können wir einkalkulieren, und es ändert immer noch nicht unsere Leitdifferenz.
Im Gegenteil, dies zwingt uns ins Handeln, denn wenn ich nicht weiß, ob mir jemand aus meiner Hunger-Misere hilft, muss ich andere Möglichkeiten schaffen.

Hier wird es konkret.
Hier können wir fragen: “Und, könnt Ihr schon den Kontingenzraum einigermaßen bestimmen und uns sagen, welche Möglichkeiten Eurer Ansicht nach alle zum Ziel führen werden und welche nicht?”

Hier muss ich die Bedingungen für das Zustandekommen der Lösungen bezeichnen.
Hier muss ich gleichermaßen kreativ wie konkret werden und kann mich nicht mehr herausreden, indem ich die Leitdifferenz ändere.

Ich kann natürlich versuchen, eine andere Leitdifferenz auf einer Metaebene zur Problemleitdifferenz zu schaffen, die mir einen noch größeren Kontingenzraum öffnet, aber wenn ich das tue, muss ich auch das gut begründen können.

Ich kann sagen: “Dann faste ich eben eine Weile!” und beantworte dann die Frage der Leitdifferenz einer anderen Ebene: “Welche Perspektiven gibt es auf Hungermodus?”

Aber, ich muss das begrifflich klar und scharf tun, denn auf “Hunger” ist Fasten keine Antwort, wie jeder Fastende weiß. Fasten ist eine Antwort auf Appetit, aber nicht auf Hungerempfinden, das ein Überlebensproblem signalisiert. Jemand, der verhungert, wird nicht durch Fasten überleben.

Wir unterscheiden also begrifflich zwischen “Kontingenz” und “Perspektivwechsel”.

Wer das nicht tut, wird sich schwer damit tun, komplexe Probleme auf höheren Komplexitätsstufen lösen zu können.

Mehrdimensionalität allein macht nämlich, wie wir im Komplexitätsmanagement-Modell gezeigt haben, die Stufen allein nicht aus.

Höher differenzieren zu können und Tempo dabei zu erreichen, spielen ebenfalls eine wichtige Rolle.

Wer aber “Kontingenz” und “Beliebigkeit” in einen Topf wirft, der wird im Zweifelsfall nie darüber hinauskommen, immer nur “kompliziert” und “komplex” zu unterscheiden, weil er oder sie bei allen komplexen Problemen das Problem hat, den Kontingenzraum nicht höher bestimmen, nicht höher auflösen, nicht höher differenzieren zu können.

Das aber ist evolutionär wichtig: Der Möglichkeits- oder Kontingenzraum enthält hier beim Hunger-Problem nämlich auch die Möglichkeit langfristiger Lösungen zum Beispiel im Bereich der Selbstversorgung, von Teambildung im Projekt “Urbane Landwirtschaft” und vieles andere, was denjenigen entgeht, die, sobald sie auf ein Problem mit der Leitdifferenz stoßen, versuchen, dem Ganzen zu kommen, indem sie einfach mal die Perspektive wechseln.

Das geht nämlich nur, solange es geht.

Wer im Wohlstand lebt und keine Krisen kennt, der kann da geistig, emotional und körperlich schnell faul werden und es gar nicht mehr merken, dass er/sie hier das Problem nicht löst, sondern sich im Hintergrund darauf verlässt, schon nicht gekündigt oder zumindest sozial aufgefangen zu werden.

Ein gesunder Kontingenz-Begriff ist krisenrelevant.
Er zwingt uns nicht nur dazu mehr zu sehen und konkret zu werden, sondern auch mehr Möglichkeiten realisierbar zu machen.

Aus Perspektive des Komplexitätsmanagement-Modells (C2M) fassen wir den Versuch, der Härte von Kontigenz zu entkommen, als Versuch auf Komplexitätsstufe 2, der aber, weil er so standardisiert kommt, als Komplexitätsstufe 0 degeneriert.

“Ich bin damit konfrontiert, mir etwas einfallen lassen zu müssen? Ändere ich doch einfach das Problem!”

Sobald man so etwas standardisiert macht und als “Kreativität im Komplexen” verkauft, landet man in Ausweichprogrammen. Es geht nicht mehr darum, in Welt Lösungen ernster Probleme zu finden, sondern der Ernsthaftigkeit zu entkommen, solange man kann.

Höheres Komplexitätsmanagement hat immer damit zu tun, sich selbst dazu herauszufordern, Neues zu lernen.

Wir leben in einem relativen Universum. Das heißt, es gibt kein übergeordnetes Bezugssystem, an dem wir alle anderen Bezugssysteme bemessen können. Wäre dem so, wäre unser Leben vielleicht viel einfacher. Aber, das ist es eben nicht. Es ist komplex:

Wollen wir Veränderung in einem Bezugssystem initialisieren, können wir das nur in Relation zu den Einschränkungen, die durch die anderen Bezugssysteme verursacht werden und multikausal umgekehrt.