Vom Ich zum Wir? - eine Perspektive mit Drawbacks

Für Viele sieht heute der Ausgang aus einer (angeblich?) ich-zentrierten, egoistischen Gesellschaft so aus, dass auf der einen Seite an einem "wahren Ich" gearbeitet und auf der anderen Seite zum "Wir" gekommen werden soll.

Manche gehen so weit, dass sie das "Wir" gleich ganz nach vorn stellen, weil sie das für den einzigen Weg halten, den Metakrisen zu begegnen.

Stellen wir kurz die Problempunkte heraus, die dabei auftauchen, um die alten Fehler nicht unbedingt wiederholen zu müssen, denn:

Dieser Ansatz ist keineswegs so neu, wie er Einigen erscheinen mag, sondern hat eine jahrtausendealte Geschichte mit immer wieder denselben Resultaten.

Es beginnt damit, dass ein diffuses "Wir" nach vorn zu stellen immer bedeutet, Konditionierung ans Steuer zu setzen. Gemeinschaftssinn lässt sich nicht erzwingen, und im nicht spezifizierten Wir geht das Individuum verloren und wird zwangsläufig durch die sich darin bildenden KommunikationsFORMen ebenso unterdrückt wie die Art von Innovation, beziehungsweise innovativen Denkens, dass dieses "Wir" in Frage stellt.

Über "Wir" zu reden, ist immer der Versuch Einzelner, einen virtuellen Konsens der Masse hinter sich zu bringen und damit Druck auf Minderheiten oder andere Einzelne auszuüben. Gustave Le Bon hat dieses Phänomen in "Psychologie der Massen" (1895) untersucht und das gesellschaftliche Experiment, das zeitgleich gelaufen ist, sollte wohl jeder kennen ... Es gibt keinen vernünftigen oder empirischen Grund anzunehmen, dass wir das heute besser könnten.

Hier eine wichtige Frage dazu: Wer kommt eigentlich auf die Idee, dass das Urteil, das Wir fällt, besser oder korrekter sein muss als das Urteil, das Ich fälle?

Umgekehrt bedeutet entsprechend, an einer ebenso diffusen Form eines "wahren Ichs" zu arbeiten, Identitätsprobleme - die Paradoxie, die Identität bedeutet - in etwas einzufrieren, das man dafür hält. Systeme, die versuchen sich ohne weitere Binnendifferenzierung (und damit Irritation) in sich selbst wieder einzuführen, verlieren ihre Fähigkeit zu entscheiden und zu bewerten. (Peyn, R., eigenFORM, 2021)

In beiden Fällen, beim diffusen "Wir" und beim diffusen "Ich", in denen nicht weiter darüber nachgedacht wird, welche Konsequenzen der Ansatz hat, folgen daraus Abgrenzungs- und ideologische Mechanismen.

Beide Versuche sind nachvollziehbar, denn wir leben in Mobbinggesellschaften mit miserabler Streitkultur, in denen viel zu viele versuchen, von sich selbst ein Bild zu präsentieren, gar zu leben, das mit der Realität nicht übereinstimmt. Die Frustration, aber auch die Ängste, die daraus folgen, verhindern zusammen, dass die großen Probleme tatsächlich angepackt werden können.

Beide Versuche funktionieren unterkomplex, halten zu viel im Dunkeln, und das hat Folgen.

Mehrdimensioniert wird allerdings ein Schuh daraus, und am Leichtesten lässt sich das über gesunde Streitkultur zeigen:

In einem der Friends-of-FORMWELT-Treffen meinte eine Teilnehmerin erstaunt, dass wir uns wenig streiten. Die Antwort darauf ist sehr einfach: Wir diskutieren, wie wertvoll Konflikte für kreatives Miteinander sind und motivieren individuelle Ansätze, weniger Rücksichtnahme auf den eigenen, aber auch den Kommunikationsstil des Anderen, mehr Lust am Streit und somit auch mehr Lust auf die Ansicht des Anderen.

In solch einem Environment können Individuen lernen, sich auf sich selbst zu konzentrieren und sich zu streiten, wenn das nun einmal passiert oder nötig erscheint, aber gerade weil sie das lernen, streiten sie sich weniger. Es geht mal turbulent zu, man unterbricht sich öfter, aber es stört eben auch nicht mehr emotional wie vorher, wenn sich einer im Ton vergreift oder einer der eigenen Trigger gedrückt wird, und wenn, dann ist das eben auch okay, denn wir sind alle Menschen, wir machen Fehler, und wir sind alles andere als rundum gut.

Indem wir die Ich-Illusion des sich in bester Absicht weiterentwickelnden Individuums auflösen, das - wie der angehende Medizinstudent - von sich selbst das Bild eines Heiligen bemüht und der damit die Interviewer zum Schmunzeln bringt, ist dann halt auch Platz fürs Menschliche. Und das bedeutet, dass es zu weniger Irritation kommt, weil der Einzelne weiß, dass das kein Problem sein muss.

Das Wir steht dabei im Hintergrund, denn es kommt auf den Einzelnen an, der lernt, dass Konflikte unvermeidbar, manchmal okay und oft sehr respekteinflößend sind und dass es ihr/ihm wenig nutzt sie zu vermeiden oder schönzureden, sondern dass es auf die eigene Fähigkeit ankommt, damit umzugehen - und sei es eben auch mal so, dass nicht damit umgegangen werden kann. Gerade die Irritation, die uns nur der Andere liefern kann, kann uns die Grenzen unseres eigenen Denkens zeigen, und deshalb kommt es auf Irritation an, und Selbsteinschränkung durch diffuses "Wir" und "Ich" versuchen immer Irritation zu reduzieren, statt zu begrüßen. Die Irritation abschalten zu wollen oder immer eine geglättete Oberfläche auf Irritation hin liefern zu wollen oder gar zu müssen, heißt innen und außen Innovationsblockaden aufzubauen. Deshalb funktioniert für die Meisten auch der Erleuchtungsweg nicht, der spirituelle - oder wie auch immer man das nennen will. Sie scheitern an ihrem eigenen ideologisierten Idealtypus und an der Masse, die sie über die Bewegung hinter sich stellen und mit Hilfe derer sie sich dann abgrenzen.

Diese Lüge gegen das Selbst, Resultat einer (selbst)ausbeutenden Marketing- und Mobbing-Gesellschaft funktioniert nicht als Grundlage für Wahrhaftigkeit sich selbst gegenüber und für wahrhaftige Beziehungen.

Es gibt kein starkes Wir ohne starke, selbstbewusste Individuen. Solche Individuen bekommen wir nur, wenn wir sie vollkommen in ihre eigene Freiheit entlassen. Damit meine ich nicht die Art von Freiheit, in der der Starke immer wieder den Schwachen unterdrücken kann und die Strukturen dann auch noch die Konsequenzen den Schwachen auflasten, wie das im Straßenverkehr läuft, wo miserable Organisation den Autofahrer zum Platzhirsch macht, dessen Rücksichtslosigkeit dann für den Radfahrer auch noch bedeutet: "Kauf Dir einen Helm!"

Gemeint ist, dass wir lernen aufzuhören, dem Anderen vorschreiben zu wollen, wie er zu leben, zu denken, zu sprechen, zu handeln hat und indem wir die sozialen Architekturen schaffen, die diese Freiheit im Rahmen freiheitlich-demokratischer Grundrechte und deren Grenzen ermöglichen. Dazu gehört unter anderen Dingen übrigens ein bedingungsloses Grundeinkommen, denn gerade heute, wo dank Robotics & KI nach und nach alle machinisierbaren Arbeiten wegfallen werden, brauchen wir das freie Individuum, das seine eigene Kreativität voll entfalten kann - aber nicht muss.

Selbstbewusstheit kann hier nicht meinen "Das bin ich und das sind meine Grenzen, also wage es nicht ...", sondern hier können wir mit konstruktivistisch-systemischem Denken weiterkommen, indem wir uns solche Individuen fließend vorstellen, in kontinuierlicher Veränderung begriffen und lernend, nach und nach ihre Furcht davor zu verlieren oder zumindest zu lernen damit zu leben - und die eben auch Anderen dieses kontinuierliche Selbstverändern erlauben.

Vor solchem Hintergrund können sich dann entsprechend fließende "Wir" entwickeln, die sich nicht mehr durch Cliquen-Abgrenzung kennzeichnen, durch Status-Sprech, Ideologisierung und isolationistische Mechanismen, sondern die sich selbstorganisiert FORMen und dann auch verändern dürfen, ohne dass nötig ist, vermittels Konditionierung dafür zu sorgen, dass das Ding bleibt, was es ist.

Bringe ich diese kurzen Gedanken mit einigen Schlüsselsätze auf den Punkt:

Menschen, die sich gut streiten können, streiten sich weniger.
Menschen, die sich und Anderen erlauben kontinuierlich anders zu sein, leben bessere Beziehungen.
Niemand, der halbwegs bei Verstand ist, würde jemals einer Gruppe beitreten, die mit diffusen Leitsätzen wie "Vom Ich zum Wir" die Konditionierungsschraube vorbereitet hat.
Menschen, die lernen sich in ihrer Semiosphäre zu emanzipieren suchen andere nach Freiheit strebende Menschen und leben Ethiken, deren oberster Wert "Freiheit" heißt - nicht "Ich" und eben auch nicht "Wir".